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BRIEFE AUS ATHEN

Portrait des Vaters zu Zeiten des Krieges


Dokumentarfilm,
HD Video, Farbe, 88' -  2016


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Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund der deutschen Besatzung in Griechenland (1941-1944) erzählt dieser Film die Liebesgeschichte zwischen meinem Vater, Assistent am geheimnisvollen Deutschen Wissenschaftlichen Institut Athen - welches von der Besatzungsmacht finanziert, in Wahrheit aber ein Refugium des Widerstandes war - und der aus Konstantinopel stammenden Kunststudentin Nelly. Er zeichnet auch das Bild ihres Freundes Rudolf Fahrner, Gründer des Instituts, Intimfreund der Brüder Stauffenberg und einer der wenigen Mitverschworenen des 20. Juli, die die auf den Attentatsversuch auf Hitler folgenden Repression überlebt haben.




director's note

Meinem Film liegen die Briefe meines Vaters zugrunde. Die mit feiner Handschrift zwischen 1939 und 1944 fast täglich geschriebenen Briefe -über tausend Seiten- erzählen nicht nur die Geschichte ihrer Liebe, sondern entwerfen ein ausserordentliches Bild des Alltages zweier junger Menschen  und ihrer Freunde unter der deutschen Besatzung. Sie schildern schliesslich, als sich mein Vater am Ende des Krieges nach Deutschland begibt, buchstäblich das Ende einer Welt.

 

Ich wollte in diesem Film die Vielschichtigkeit menschlicher Erfahrung in einer historischen Situation darstellen, die normalerweise in polarisierten Begriffen (Besatzer–Besetzte, Kollaboration–Widerstand, Henker–Opfer etc.) wiedergegeben und damit häufig zu Unrecht vereinfacht wird. Ich bezeichne, indem ich das tägliche Leben der zwei Liebenden –und ihres Freundes Rudolf Fahrners-  zeige, die eine von einander abweichende oder widersprüchliche Wahrnehmung derselben politischen Wirklichkeit hatten und daraus jeweils verschiedene Schlüsse für ihr Leben zogen, die verschiedenen Elemente der Geschichte.

 

Briefe aus Athen erzählt die Geschichte einer Liebe und des Widerstandes, reflektiert die Mechanismen der individuellen und der Kollektiverinnerung und stellt vor allem eine einfache, leider auch heute noch aktuelle Frage: wie kann man durch Denken, durch Poesie der Barbarei widerstehen?




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Fahrner, Nelly, mein Vater




Das Deutsche Wissenschaftliche Institut Athen

 

 

Das Deutsche Wissenschaftliche Institut Athen ist eine Anomalie in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, eine a priori unverständliche Ausnahme, die aber a  posteriori und a contrario beweist, daß die Dinge immer vielschichtiger sind, als man es gerne wahrhaben möchte.


Die Nazis haben in den von ihnen besetzten Ländern ein Dutzend solcher Institute gegründet, Propagandaorgane, deren Aufgabe es war, die deutsche Sprache und Kultur -oder was sie dafür hielten- den bürgerlichen oder wohlhabenden, eventuell zur Zusammenarbeit bereiten Klassen nahezubringen. Stipendien für Studenten, die im Deutschen Reich studieren wollten, wurden ebenfalls vergeben.


Rudolf Fahrner erhält den Auftrag zur Gründung des Institutes in Athen. Um Hitlers Bewunderung des antiken Griechenland wissend, setzt er an hoher Stelle durch, daß das Institut ausschliesslich wissenschaftlichen und kulturellen, keinesfalls politischen Zwecken dienen soll, verbietet Uniformen in seinen Räumen und erhält das Verbot während des gesamten Krieges aufrecht, organisiert mit meinem Vater philosophische Seminare, Lesungen und Konzerte, übersetzt antike Texte mit Alexander von Stauffenberg, den er zu Vorträgen einlädt, in einem Wort er verwandelt das Institut in einen quasi extraterritorialen Studienort, den nach einstimmigen Berichten aller Griechen und Deutschen, die es besucht oder dort gearbeitet hatten, kaum je ein Offizier der SS, der Wehrmacht oder anderweitiger Parteibevollmächtiger betreten hat.


Es ist siebzig Jahre später nur sehr schwer nachzuvollziehen, was auf erste Sicht hin schier unglaublich klingt. In einem von den Deutschen geknechteten Land treffen sich oppositionelle Studenten mehrfach pro Woche in einem von den Nazis gegründeten Institut, welches aber sämtlichen Zeugnissen zufolge eine Oase der Freiheit in der besetzen Stadt darstellt. Toleranz, Offenheit, freier Geist herrschen dort uneingeschränkt. Die Hungersnot im Winter 1941/1942 überleben mein Vater, seine Freundin Nelly und seine anderen Studenten –einige von ihnen sind später berühmt geworden: so z.B. der Philosoph Cornelius Castoriadis oder der Politiker V. Theodoropoulos-, indem sie die großen philosophischen Fragen miteinander diskutieren. Das erste von meinem Vater geleitete Seminar hat zum Thema: "Was ist Komik?"


 

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BRIEFE AUS ATHEN

PORTRAIT DES VATERS ZU ZEITEN DES KRIEGES




... wie könnte ich die leuchtende Klarheit dieses Filmes mit Worten vermitteln?

                                                                             Eva Stefani, Filmemacherin



Timon Koulmasis, wie sein Vater als Grieche in Deutschland geboren, den Widerstand seiner dort lebenden Familie gegen die griechische Obristendiktatur sowie die deutsche Geschichte der bewegten siebziger Jahre aus engster Nähe mit erlebend, heute in Paris und in Athen arbeitend, in Erinnerung und Film zuhause, filmt mit Schmerz und Hoffnung auf die Poesie im Leben dessen Briefe (1939-1944) an die geliebte Malerin und Bildhauerin Nelly Andrikopoulou; er setzt, genauso wie sein Vater, immer wieder gegen die Barbarei; er setzt auf den Film und das menschenwürdige Leben.


Dresden in schwarz-weiß, Erinnerung, die darum verwoben ist, ein Schlüsselloch in die Geschichte; der Weltbürger und stets überall der Fremde in den nachdenklichen Farben des deutschen Waldes; das Deutsche Wissenschaftliche Institut in Athen (1941-1944), die seltsame Gestalt seines Leiters Rudolf Fahrner und dessen intime Verbindung zu den Brüdern Stauffenberg, Kamerafahrten, mal scharf, mal andeutend, zwischen den handgeschriebenen Zeilen, zwischen den Ländern, nach inneren Wahrheiten suchende Blicke. Und Athen hell und licht - trotz allem; von der Omirou Straße her blickt Nelly, gleichsam die Führerin im Film, dem Briefeschreiber, der deutschen Besatzungszeit in Athen, uns heute, mutig und frei und stark entgegen. Ihre Briefe an Petros Koulmasis sind verloren, aber Timon Koulmasis lässt sie in seinem Film antworten. Und die Antwort ist entwaffnend, versöhnend. Ein Gewinn für das Heute, für die Zukunft.  


"In Briefe aus Athen gebe ich nicht vor zu wissen," sagt der Regisseur, "sondern versuche zu verstehen und Dinge, die in den Bildern allein nicht zu sehen sind, in Zusammenhängen zwischen den Bildern sichtbar zu machen. Die Geschichte wird nicht einfach zitiert, sondern zu einer Frage der Reflexion. Der Film ist keine Chronik 'historischer' Ereignisse, sondern eine Reihe von im Laufe der Geschichte erlebter und gelebter Momente."


Sofia Michailidou - Goethe-Institut




Briefe aus Athen - Portrait des Vaters zu Zeiten des Krieges ist viel mehr als ein Dokumentarfilm zur Erinnerung an den Vater. Mit poetischen Bildern «dokumentiert» und hinterfragt Timon Koulmasis anhand der handgeschriebenen Seiten des Briefwechsels und der schlichten Erzählung der 90jährigen Nelly empfindsam die Geschichte einer deutsch-griechischen Freundschaft, die der Barbarei ihrer Epoche widersteht. Zwischen Wort, Indiz und dem dazwischen liegendem Schweigen erzählt der Film gleichzeitig die unbekannte Geschichte des «Deutschen Wissenschaftlichen Instituts Athen» und seines Gründers Rudolf Fahrner, eines wahrhaftigen Philhellenen in den Wirren der Besatzungszeit.


Kostas Kalfopoulos - Kathimerini, 23.10.2016




Briefe, Erzählungen, Photos und unveröffentliches, von deutschen Soldaten gedrehtes Archivmaterial verbinden auf virtuose Weise das große Bild mit dem kleinen, die Geschichte Europas im Krieg mit dem Alltag zweier junger Menschen, die die Zerstörung zum Teil in einem beschützten, literarischen und künstlerischem Milieu erleben. (...)

Es ist weder die Vater-Sohn-Beziehung noch das Klischee einer „Liebe im Kriegs", um die es in diesem Film geht. Auch nicht um die Emotion über den Verlust, um die fortwährenden Veränderungen, die kleinen Freuden und die große Trauer, den Großmut und die Furcht, die Umstände. In "Briefe aus Athen" werden wir uns bewußt, daß "Zeiten des Krieges" viele Schattierungen haben. Sie sind nicht schwarz-weiss. Helden und Verräter,  Kollaborateure, Besatzer, Täter und Opfer. Es gab Deutsche, die die Nazis verabscheuten, Menschen, die mit tiefer Besorgnis verfolgten, was in ihrem Land geschah, die hungerten, aber nicht verhungerten, die überlebten, ohne vor dem Feind zu kapitulieren.

Nichts ist nur schwarz-weiss. Und wo es keinen Raum für Zweifel gibt, findet jede Form von Totalitarismus einen Platz.


Maria Katsounaki - Kathimerini, 30.10.2016




Die Briefe erzählen nicht einfach eine Liebesgeschichte. Sie sezieren das tägliche Leben in Athen unter der deutschen Besatzung, wie auch die Rolle des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in dieser Zeit. (...) Eine Liebe mit "doppelter Identität" in den Jahren der Finsternis.


Kostas Terzis, Avgi - 26.10.2016




Ich bewundere den Mut, in Griechenland eine Geschichte öffentlich zu machen, die durch die Briefe des Vaters zwar sehr anrührt, aber das offizielle, heroische Geschichtsbild zum Zweiten Weltkrieg in Frage stellt. So mitreissende Antihelden... so alltägliche Menschen...


Natassa Domnaki - Athener Presseagentur



Ein Bild wiegt tausend Worte auf, besagt ein chinesisches Sprichwort. Um diesen Film zu beschreiben, bräuchten wir unzählige, farbige und schwarz-weisse Seiten.  


Irene Gavala - kosmonea.gr


Ein Gespräch mit Kostas Kalfopoulos  



Herr Koulmasis, können wir «Briefe aus Athen» als Teil einer losen Trilogie ansehen, der auch «Ulrike Marie Meinhof» und «Wort und Widerstand» angehören? Und ist der Film, der auf den Briefen Ihres Vaters an Nelly gründet, nicht gleichzeitig auch ein «Brief an den Vater» ?  


Ja, das stimmt beides. «Briefe aus Athen» steht in meiner Arbeit in einer Reihe von Filmen, in denen ich von einer persönlichen Erinnerung, die meine Familiengeschichte betrifft, ausgehe, um sie der Kollektiverinnerung eines historischen Ereignisses oder einer geschichtlichen Epoche gegenüberzustellen. So geht mein erster Dokumentarfilm «Ulrike Marie Meinhof» (1994) von Erlebnissen meiner Kindheit und Jugend - meiner Freundschaft mit der Tochter der Gründerin der Roten Armee Fraktion - aus, um die unbekannte, menschliche Seite dieser Frau, die nach ihrem Tod zu einem unpersönlichen Mythos geworden ist, aufzudecken und verschiedene Aspekte der politischen Geschichte des bewaffneten Kampfes in Deutschland der siebziger Jahre zu erhellen. In «Wort und Widerstand» (2010) bildet das Exil unserer Familie in den sechziger Jahren - meine Mutter war im Widerstand gegen die griechische Obristendiktatur engagiert - den Ausgangspunkt für eine filmische Überlegung über das, was im Bewusstsein der Menschen in Griechenland heute von dieser Episode des Faschismus in ihrem Land und von den Hoffnungen und Versprechungen nach seinem Fall geblieben ist. Und sicher, der Film ist auch ein Brief an meinen Vater, der eine entscheidende Gestalt in meinem Leben war, die mich bis heute prägt.    



In Ihrem Film finden sich teils eindringlich, teils diskret Elemente «deutschen Geistes, deutscher Kultur», d.h. die Jugendliebe, der Briefwechsel, die Sehnsucht, die Pädagogik, der Idealismus, wie auch die Ideale einer Generation.   


Der Film beschreibt die letzte Generation vor dem historischen Bruch. Die Entdeckung des unsagbaren Grauens - der zweite Weltkrieg, Auschwitz und die Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima - bedeutete für sie die vollständige Zerstörung ihrer von humanistischen Idealen geprägten Welt. Die Frage dieser tatsächlich sehr deutschen Sehnsucht, die auch sie charakterisiert hatte, stellte sich dann plötzlich anders:  "Wie lebt man nach dem Leben?" Und irgendwie haben sie es geschafft. Immer unterliegt eine geheime Melodie den Dingen, die es dann aufzuspüren gilt für uns, die wir die Augen aufschlugen, als der Krieg längst zu Ende war. Ich bin in der Hinsicht Sohn meines Vaters geblieben.    



Parallel dazu gibt es in Ihrem Film das Element einer «Kulturgeschichte» zwischen Deutschland und Griechenland. Da sind Figuren und Dinge, mit denen Ihr Vater und Nelly in den schwierigen Zeiten des Krieges in Berührung kommen, vor allem Rudolf Fahrner und das Deutsche Wissenschaftliche Institut. Warum verläuft diese «Kulturgeschichte» heute, in einer Epoche gegenseitiger Vorurteile, Klischees und Polemik, so schwach?  


Ich frage mich das seit Jahren. Das kritische Wort, das frei von Klischees und ideologischen Einflüßen zu spezifischen historischen Gegebenheiten Stellung bezieht, ist zwar nicht verschwunden, aber wird zunehmend unhörbar. Die neoliberalen, televisuellen Massenmedien tragen da sicher eine schwere Verantwortung -und es ist wohl zu früh, um zu beurteilen, ob es im Internet wirkliche Alternativen gibt-, aber man sollte sich, wenn es um so tiefgreifende gesellschaftliche Prozesse geht, vor einfachen Antworten hüten. Sicher ist, daß wir heute in einer a-historischen Zeit leben. Und der damit einhergehende Verlust ideeller Anhaltspunkte bedroht das Bewußtsein der Menschen. Das ist sehr bedenklich, und eine Rückfall in die Barbarei ist nicht mehr auszuschliessen.    



Petros Koulmasis-Nelly Andrikopoulou, Dresden-Athen, Eros und Kultur: eine deutsch-griechische Freundschaft par exellence oder die «Suche nach der verlorenen Zeit»?  


Die «Suche nach der verlorenen Zeit!». Sie setzt uns in Beziehung zu dem, was uns in gewissem Masse begründet. Die entscheidende Frage ist der Eintritt in das Feld der Geschichte. Und da bedürfen die Erinnerungen -Zeitzeugnisse ganz allgemein- der Ergänzung durch einen globalen, synthetischen Blick. Insofern erscheint ihre Verlagerung in die Kunst (Film, Roman usw...) als ein adäquates Mittel, um sich wenn auch nicht der zwangsläufig unfassbaren Wahrheit einer Zeit doch wenigstens ihren charakteristischen Zügen anzunähern und das Komplexe, die Vielschichtigkeit einer Epoche deutlich zu machen.    



Rudolf Fahrner war sowohl in einem deutschen Kontext (Stauffenberg, George-Kreis), wie im griechischen (das DWI in Athen) eine wichtige Persönlichkeit.  Erschwert die Abwesenheit solcher Persönlichkeiten -wie auch z.B. die Ihres Vaters oder Nelly Andrikopoulous-, weiter das ohnehin schwierige gegenseitige, deutsch-griechische Verständnis?  


Sicherlich, aber es stellt sich doch eher die Frage nach dem Grund dieser Abwesenheit untypischer, jenseits von Schablonen frei denkender Menschen bzw. warum sie nicht mehr zu hören sind. Nelly hat Fahrner, der während der Besatzungszeit vielen Griechen geholfen hat, mir gegenüber einmal folgendermaßen beschrieben. "Er saß im Café, überzeugt davon Nektar zu trinken, da die Akropolis ihm gegenüber lag. Seine Gefährtin trug antike Kleider. Bomben fielen und er übersetzte Homer. Aber diese Menschen glaubten an etwas und darum sind sie damals nicht zu Kannibalen geworden. Sie hatten Werte, die ihnen wichtiger waren als jegliche, noch so elementare, materielle Begebenheiten." Das Problem ist der Werteverlust oder die Werteverschiebung in unserer, wie gesagt a-historischen Zeit.    



Wie fühlt sich der Regisseur und Sohn dem «Portrait des Vaters zu Zeiten des Krieges» gegenüber? Während der Dreharbeiten und wenn er den fertiggestellten Film sieht.  


Einer der wenigen Vorteile der äusserst schwierigen Produktionsbedingungen -ich habe sechs Jahre gebraucht, um diesen Film fertigzustellen-, war die mir dadurch gegebene, zusätzliche Zeit. Sie hat es mir ermöglicht, die nötige Distanz zu erarbeiten, die man wie eben auch die Nähe zu den Personen im Film braucht, um das Verhältnis zwischen ihrem individuellen Rückblick auf eine mittlerweile historische Zeit und ihrer Kollektiverinnerung (die ja aus mehr als der Summe der einzelnen Erinnerungen besteht) in Szene zu setzen und zu beleuchten. Die zeitliche Entfernung ist ein Faktor. Aber die Schwierigkeit besteht vor allem in der Gleichzeitigkeit der Geschichte, jeder Geschichte. Anders gesagt, man kann die Dinge nicht so erzählen, wie sie sich zugetragen haben, weil man, um sie erzählen zu können, trennen und hintereinander stellen muß, was in Wirklichkeit ineinander verwoben ist. Ausserdem kann man im Film nicht alles repräsentieren. Die zentrale Herausforderung besteht deswegen in der Notwendigkeit, eine Filmsprache zu entwickeln, die zwar die Geschichte erzählt, auf einer anderen Ebene aber die Leere und das Schweigen, die sie beinhaltet, integrieren und bildlich darstellen kann. Beim Drehen hat mich in Dresden einmal das große Grausen gepackt: die Stille der Geschichte, die Abwesenheit, die absolute Auslöschung. Kein Bild, das Vergangenes, wie es vielleicht war, wieder auftauchen, es überhaupt vorstellbar werden liesse - ich habe das dann wohl unbewusst in der Schönheit der Einstellungen des Lichtes über der Ägäis zu spiegeln versucht. Wenn ich den fertigen Film heute ansehe, kann ich eigentlich nicht mehr sagen, als daß ich versucht habe, ehrlich zu sein. Ich bin bis ans Ende meiner Kräfte gegangen. Das Ergebnis müssen andere beurteilen.     


Kostas Kalfopoulos ist Autor von Erzählungen und Journalist. Das Gespräch ist am 23.10.2016 in der Zeitung Kathimerini erschienen.

Wie ist Briefe aus Athen entstanden?


Die ganze Sache fing mit einem Telefonanruf an. "Timon, ich hatte einen Wasserschaden, du mußt unbedingt kommen," verkündete mir meine alte Freundin Nelly –sie war damals erst Ende achtzig– mit fröhlicher Stimme. Sie rief aus Athen an.  Ich war in Paris.


Nelly war die erste große Liebe meines Vaters gewesen. Sie hatten sich 1938 in Athen getroffen, Frieden, Krieg und die deutsche Besatzung zusammen erlebt, bevor sie durch den Lauf der Geschichte gewaltsam getrennt wurden. Sie hatten sich erst Jahre später wiedergesehen, aber waren bis zum Tode meines Vaters eng befreundet geblieben.

 

Als ich Nelly in ihrer geräumigen, am Hang des Lykabettus gelegenen Wohnung aufsuchte, lagen hunderte von Papieren auf den Tischen, Stühlen, Kanapees, auf dem Flügel, auf dem Boden. "Das sind Briefe deines Vaters", sagt sie mir ohne weitere Umschweife. Sie hatte sie in einem Karton, dessen Existenz sie seit sechzig Jahren vergessen hatte, hinter einem Schrank gefunden und vor dem eindringenden Wasser gerettet. "Sie gehören dir."

 

Die mit feiner Handschrift zwischen 1939 und 1944 fast täglich geschriebenen Briefe -über tausend Seiten- erzählen nicht nur die Geschichte ihrer Liebe, sondern entwerfen ein ausserordentliches Bild des Alltages zweier junger Menschen und ihrer Freunde unter der deutschen Besatzung. Sie schildern schliesslich, als sich mein Vater am Ende des Krieges nach Deutschland begibt, buchstäblich das Ende einer Welt. 

 

Mir schien, daß die Geschichte ihrer Liebe und ihrer Freundschaft mit der seltsamen Gestalt Rudolf Fahrners, die in ihnen zum Ausdruck kommt, die Vielschichtigkeit menschlichen Erlebens in einer kaum bekannten geschichtlichen Epoche – die deutsche Besatzung Griechenlands – verkörpert, daß mein Vater und Nelly mit ihren Erzählungen und in ihrer Person den historischen Geschehnissen gewissermaßen ein Gesicht verleihen.

 

 

Die Frage der individuellen und der Kollektiverinnerung steht im Zentrum ihrer Überlegungen als Filmemacher.  Wie gehen Sie dabei vor?

 

Briefe aus Athen steht in meiner Arbeit in einer Reihe von Filmen, in denen ich von einer persönlichen Erinnerung, die meine Familiengeschichte betrifft, ausgehe, um sie der Kollektiverinnerung eines historischen Ereignisses oder einer geschichtlichen Epoche gegenüberzustellen.

 

So geht mein erster Dokumentarfilm Ulrike Marie Meinhof (1994) von Erlebnissen meiner Kindheit und Jugend – meiner Freundschaft mit der Tochter der Gründerin der Roten Armee Fraktion – aus, um die unbekannte, menschliche Seite dieser Frau, die nach ihrem Tod zu einem unpersönlichen Mythos geworden ist, aufzudecken und verschiedene Aspekte der politischen Geschichte des bewaffneten Kampfes in Deutschland der siebziger Jahre zu erhellen.

 

In Wort und Widerstand (2010) bildet das Exil unserer Familie in den sechziger Jahren – meine Mutter war im Widerstand gegen die griechische Obristendiktatur engagiert - den Ausgangspunkt für eine filmische Überlegung über das, was im Bewusstsein der Menschen in Griechenland heute von dieser Episode des Faschismus in ihrem Land und von den Hoffnungen und Versprechungen nach seinem Fall geblieben ist.

 

Mit Briefe aus Athen war es genauso. Die persönliche Nähe zu den Zeitzeugen, die empfindsame Annäherung an die Menschen, das gegenseitige Vertrauen haben es mir ermöglicht, das Verhältnis zwischen ihrem individuellen Rückblick auf eine mittlerweile historische Zeit und ihrer Kollektiverinnerung (die ja aus mehr als der Summe der einzelnen Erinnerungen besteht) in Szene zu setzen und zu beleuchten.

 

 

Wie würden Sie dieses Verhältnis definieren?


Es ist komplex. Für Proust besteht eine Erinnerung aus einer Empfindung, die ein Zeichen darstellt. Mehrere, selbst weit von einander entfernte, unzusammenhängende Zeichen ergeben einen Sinn. Für Augustinus ist sie eine Kraft der Seele, die sich Kenntnisse und Wahrnehmungen in der Vergangenheit wieder vergegenwärtigt und so dem Leben einen Sinn verleiht.

 

Aber das Gedächtnis hat eine eigene Logik, die sich unserem Willen und unserer Intelligenz entzieht. Es unterliegt unseren Emotionen. Es wahrt unser psychisches Gleichgewicht in der Gegenwart und repräsentiert die Vergangenheit nicht objektiv. Deswegen ist, anders als man glaubt, die erste Funktion des Gedächtnisses nicht die Erinnerung, sondern das Vergessen. Die Erinnerung verdeckt zuerst die Vergangenheit und läßt an die Oberfläche des Bewußtsein nur das aufsteigen, was uns nützlich oder schlicht erträglich ist.


 

Für einen Filmemacher ist die Idee einer historischen Wahrheit also bestenfalls eine frommer Wunsch, eine Fiktion ?

 

Natürlich. Erinnerungen -Zeitzeugnisse ganz allgemein- bedürfen der Ergänzung durch einen globalen, synthetischen Blick. Insofern erscheint ihre Verlagerung in die Kunst (Film, Roman usw...) als ein adäquates Mittel, um sich wenn auch nicht der zwangsläufig unfassbaren Wahrheit einer Zeit doch wenigstens ihren charakteristischen Zügen anzunähern und das Komplexe, die Vielschichtigkeit der Epoche deutlich zu machen.

 

 

In Briefe aus Athen haben Sie sich mit dem absoluten Bruch in der Geschichte, den der zweite Weltkrieg, Auschwitz und die Zerstörung der humanistischen Kultur bedeuten, auseinandergesetzt. Das stellt die Frage nach Möglichkeit einer Repräsentation der historischen Wirklichkeit und damit diejenige nach einer adäquaten Filmsprache.

 

Genau. Die zeitliche Entfernung ist ein Faktor. Aber die Schwierigkeit besteht vor allem in der Gleichzeitigkeit der Geschichte, jeder Geschichte. Anders gesagt, man kann die Dinge nicht so erzählen, wie sie sich zugetragen haben, weil man, um sie erzählen zu können, trennen und hintereinander stellen muß, was in Wirklichkeit ineinander verwoben ist. Ausserdem kann man im Film nicht alles repräsentieren.

 

Die zentrale Herausforderung besteht deswegen in der Notwendigkeit, eine Filmsprache zu entwickeln, die zwar die Geschichte erzählt, auf einer anderen Ebene aber die Leere und das Schweigen, die sie beinhaltet, integrieren und bildlich darstellen kann. Mir scheint, daß die Fragmentation einer vielstimmigen Erzählung, die spezielle Behandlung der Archivbilder und die durch den Schnitt erzeugte Diskontinuität eine erste Antwort auf diese Frage geben. Sie schaffen einen Abstand, einen Spannungsraum, in dem, was nicht gezeigt werden, erklingen oder widerhallen kann.

 

Diskontinuität verhindert eine voreingenomme Repräsentation der geschichtlichen Ereignisse. Geschichte wird als im Werden begriffen und nicht als Kausalität verstanden. Sie wird nicht einfach zitiert, sondern zu einer Frage der Reflexion. Der Film ist keine Chronik "historischer" Ereignisse, sondern eine Reihe von im Laufe der Geschichte erlebter und gelebter Momente.

 


Gilt das auch für die Archivbilder?

 

Natürlich. Um ins Feld der Geschichte einzutreten, müßen wir uns die Archivbilder neu aneignen.

 

 

Haben Sie die Archivbilder deswegen « behandelt » ?

 

Ja. In Briefe aus Athen habe ich die Archivbilder experimentell behandelt. Solarisieren und Umkehrverfahren (von Vorkriegsbildern einer im Verschwinden begriffenen Welt) sind ein Beispiel; ich habe (bei einigen Bildern des täglichen Lebens im Krieg) auch auf die Geschwindigkeit, die Farbe und das Korn eingewirkt und graduelle Veränderungen der Bildtextur und des Zeitablaufes erzeugt. Es geht darum, die Bilder an die Grenze des Lesbaren zu treiben, gewissermaßen eine Archäologie des Sichtbaren zu betreiben, zu versuchen aufzuspüren, was sie verbergen, was hinter der Repräsentation steckt, die Präsenz des Lebens (und selbst von verschwundenen Dingen) zu erfassen.

 

Regisseure, die aus der Kunstszene kommen -Yervant Gianikian und Angela Ricci Lucchi, zum Beispiel, oder Peter Forgasz– haben in diesem Bereich mitreißende Arbeiten geschaffen. Und Harun Farocki hat immer wieder auf die entscheidende Bedeutung der Produktionsbedingungen der Bilder hingewiesen.

 

In Briefe aus Athen habe ich zum Beispiel unveröffentlichte, von deutschen Soldaten gefilmte Bilder der Besatzung Griechenlands geschnitten. Ich habe sie nach langen Recherchen bei Privatsammlern in Deutschland gefunden. Diese Bilder zeigen an den selben Orten, im selben historischen Augenblick, nicht die selben Dinge, oder doch sehr anders als zum Beispiel die ergreifenden Einstellungen, die Angelos Papathanassiou unter Lebensgefahr zwischen 1941 und 1944 in Athen gedreht hat, die einzigen Bilder, die wir in Griechenland bis dahin kannten. Das Verhältnis zwischen den beiden zu beleuchten, ist hochinteressant.

 

 

Die Tongestaltung in Briefe aus Athen ist ausserordentlich suggestiv. In allen Ihren Filmen messen Sie Ton und Musik eine große Bedeutung zu.

 

Ja, das ist ein Bereich, an dem Aurique Delannoy, die alle meine Filme geschnitten hat, und ich permanent arbeiten und experimentieren. Die Musik bzw. die Tongestaltung (das “hors champ sonore“, wie man hier in Frankreich sagt) verleiht dem Zuschauer im Raum der Erinnerung, den ich in meinen Filmen entstehen lasse, die Möglichkeit einer perzeptiven, sensoriellen Erfahrung.  Sie besteht nicht darin, Bilder zu illustrieren oder Szenen dramatisch zu untermalen. Sie erzeugt Spannungsmomente, spiegelt Resonanzen, schafft Atmosphäre. Sie bildet einen Klangraum, der die verschiedenen Zeit- und Bedeutungsebenen der Erzählung verbindet. In Briefe aus Athen fügen sich Melodien und Geräusche, Gesprächsfetzen und Volkslieder, Panzerrollen, Großstadtlärm und klassische oder moderne Tonfolgen zu einer vollständigen, neuen Komposition zusammen.

 


Briefe aus Athen erzählt eine eher tragische Geschichte –die Liebenden überleben, aber werden vom Krieg getrennt-, aber es ist keine trauriger Film. 

 

Ich denke, das liegt an der ausserordentlichen Präsenz von Nelly Andrikopoulou im Film. Sie war schon über neunzig, als wir drehten, und nach allem was sie erlebt und erlitten hat –sie, mein Vater, ihre Generation-, kann sie doch den Film mit diesem unglaublichen, eigentlich meinem verstorbenen Vater gewidmeten Satz abschliessen: « So war es. Was soll man dazu sagen, es ist halt so gewesen. Schön war es auf jeden Fall, schön war's, Timon, das kannst du ihm sagen. »

 

Sie spiegeln diese Schönheit in Ihrem Film in Aufnahmen vom Licht über der Ägäis.

 

Ich glaube an die Permanenz der Dinge, ein ethisches Prinzip vielleicht. Ich bleibe ein Optimist.



Wie würden Sie Ihren Film ein einem Satz zusammenfassen?


Briefe aus Athen erzählt die Geschichte einer Liebe und des Widerstands, reflektiert die Mechanismen der individuellen und der Kollektiverinnerung und stellt vor allem eine einfache, leider auch heute noch aktuelle Frage: wie kann man durch Denken, durch Poesie der Barbarei widerstehen?







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Als der Krieg ausbrach, fühlte ich mich wie eine Sardine, die man entzwei riss. Da ich in der deutschen Kultur aufgewachsen war, konnte ich weder mein deutsches Element, das mich seit meiner Kindheit geprägt hat, noch meine griechische Identität verleugnen. Wir konnten die Deutschen nicht nicht hassen, aber irgendetwas in mir verweigerte sich dem auch. Und deinem Vater ging es genauso.
 
 Nelly  





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Das Propagandamaterial aus dem Goebbelsministerium wird auf Weisung von Fahrner im Keller verbrannt. Jedenfalls werden diese Schriften bei den gesellschaftlichen Veranstaltungen nicht ausgelegt. Fahrner ist ein Gegner der Nazis. Aber er lässt Vorsicht walten. Auch mir gegenüber, zu dem  er vertrauensvolle Beziehungen unterhält. Ich bin schließlich Grieche. Und damit bin ich beiden Seiten nicht geheuer.
  mein Vater






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Am Ende hat die Geschichte, haben die Ereignisse entschieden.
 
 Nelly  

















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 mit 
  Nelly Andrikopoulou
     
 Buch und Regie
  Timon Koulmasis
 Kamera   Odysseas Pavlopoulos
Iro Siafliaki
Timon Koulmasis
 Schnitt, sound design 
  Aurique Delannoy
 Musik
  Eric Demarsan
 Produzent   Carl-Ludwig Rettinger, Timon Koulmasis
 Produktion   Lichtblick Film, Aia Films, WDR, ERT
Film- und Medienstiftung NRW, CNC
Goethe-Institut Athen, J.F.Costopoulos Foundation
 
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